Sprechen über Sprache. Eine Analyse des Diskurses über das Luxemburgische
Veröffentlicht am: 10.01.2018, 15:48
17 MinutenDie Diskussion über das Luxemburgische bewegt weiterhin die Gemüter, trotz steigender Sprecher.innenzahlen, politischer Förderung, wachsender Präsenz in der Öffentlichkeit und gestiegener Akzeptanz auch bei Grenzpendler.innen. Jede noch so kleine Äußerung zum Wohl und Wehe der Sprache ruft erregte, teils erboste Kommentare hervor, wie etwa jüngst wieder am Beispiel einer eher harmlosen Carte Blanche von Fernand Fehlen auf RTL geschehen.
Im Zentrum der Debatte steht dabei derzeit vor allem die Frage der Vitalität des Luxemburgischen, die von den Einen mit Hinweis auf die steigenden Sprecher.innenzahlen und die Nachfrage nach Sprachkursen bekräftigt, von den Anderen mit dem Hinweis auf den sinkenden relativen Anteil der Luxemburgischsprecher.innen an der Wohnbevölkerung in Zweifel gezogen wird. Als Dreh- und Angelpunkt der Diskussion erweist sich dabei immer wieder die Einschätzung des Moselfränkischen als “vulnerable” im “Atlas of the World’s Languages in Danger” der UNESCO. Auf der Skala der UNESCO bezeichnet dieser Status die niedrigste Gefahrenstufe (für ein mögliches Aussterben der Sprache), und diese Einschätzung hängt von einer Reihe von Kriterien ab, darunter Sprecher.innenzahlen, familiäre Weitergabe, schulische Vermittlung, gesellschaftliches Prestige oder politische Förderung.
Da in dieser Diskussion viele Dinge durcheinander gehen – und übersehen werden, z.B. der Umstand, dass weder absolute noch relative Sprecher.innenahlen allein die Lebendigkeit einer Sprache allein beschreiben können oder dass für das Luxemburgische ganz andere (und viel stabilere) gesellschaftlichere Rahmenbedingungen gelten als für die bedrohten Regionalsprachen des Moselfränkischen in Belgien, Deutschland und Frankreich –, möchte ich versuchen, den Diskurs über das Luxemburgische ein wenig zu sortieren, ohne damit den Anspruch zu erheben, es sei dann alles gesagt oder geklärt. Und doch, ausgehend von der Lage, dass sich viele Menschen in diesem Diskurs äußern, niemand aber wirklich dem oder der Anderen zuzuhören scheint, möchte ich dabei die verschiedenen Akteur.innen, Prozesse und Deutungen skizzieren, um mit einem ebenso offensichtlichen wie vielleicht optimistischen Vorschlag zu einer Lösung dieses Kommunikationsproblems zu schließen.
Ausgangslage: Gegeneinander verschiedener Akteur.innen
Beginnen wir mit der Gesprächslage: Viele Menschen in Luxemburg möchten sich zur Sprachenfrage äußern, weil Sprache eben jede.n im Alltag betrifft und beschäftigt. Häufig allerdings geraten dabei die eigene Rolle und der damit verbundene Deutungsanspruch gegenüber anderen Akteur.innen ein wenig aus dem Blick. Etwas vereinfacht können wir in diesem Diskurs vier verschiedene Typen von Akteur.innen unterscheiden, die alle mehr oder weniger fröhlich aneinander vorbeireden:
- Wissenschaftler.innen: Als Wissenschaftler.innen bezeichnen wir Akteur.innen mit einer speziellen thematischen Ausbildung, z.B. für die Analyse von Sprache, die sich beruflich, zumeist an Universitäten, mit thematischen Fragestellungen befassen. Wissenschaftliche Analysen versuchen auf Basis von überprüfbaren Fakten Diagnosen und Prognosen zu erstellen, etwa eben dazu, wie vital das Luxemburgische ist; dabei allerdings blenden sie häufig das individuelle Erleben der Menschen aus, die Sprache im Alltag benutzen.
- Privatleute: Solche sind alle Teilnehmer.innen am Diskurs, die als Sprecher.innen von Sprachen über detailliertes Alltagswissen verfügen. Privatleute berichten und werten auf Basis persönlicher Erfahrungen, aus denen sie auf das Ganze der Sprachpraxis schließen; dabei übersehen oder missverstehen sie aber zumeist den Unterschied zwischen individueller Perspektive und gesellschaftlicher Praxis. (Dazu gehören auch selbsternannte Sprachexpert.innen, die sich als Lehrer.innen, Physiker.innen oder Mediziner.innen zu Sprachfragen äußern, häufig aber ohne die nötige Fachkompetenz.)
- Gesellschaftliche Gruppen: Die verschiedensten Gruppierungen einer Gesellschaft repräsentieren Zusammenschlüsse von Individuen in unterschiedlichen Bereichen der Praxis: Das können Journalist.innen einer Zeitung sein, Mitglieder einer Facebook-Gruppe oder auch eine Familie. Gruppen organisieren die Praxis ihrer Mitglieder, um sicherzustellen, dass alle Mitglieder sich zu den in der Gruppe ausgehandelten Bedingungen äußern und ihre Anliegen vortragen können; dazu gehören auch Fragen zur Verwendung und Anerkennung von Sprachen. Häufig stellen Gruppen dabei aber eigene Interessen über die anderer Gruppierungen, besonders wenn es um die Durchsetzung eigener Ziele oder politischer Anliegen geht.
- Politiker.innen: Politische Akteur.innen übernehmen im Rahmen ihrer beruflichen Praxis Verantwortung dafür, soziale, wirtschaftliche oder bildungspolitische Rahmenbedingungen für die (Sprach)Praxis einer Gesellschaft zu schaffen, innerhalb derer möglichst viele Akteur.innen im Alltag erfolgreich handeln können – zumindest in demokratischen Gesellschaften. Dies geschieht sowohl aus strategischen wie aus taktischen Motiven heraus. Häufig allerdings unterschlagen sie dabei die ideologische oder parteipolitisch gefärbte Grundlage ihrer Arbeit und ignorieren mitunter wissenschaftliche Expertise bei der Ausarbeitung politischer Programme.
Damit schließt sich der Kreis der verschiedenen Typen von Akteur.innen, auch wenn dieser natürlich nicht vollständig ist. Künstler.innen ebenso wie ihre produktiven Aneignungen von Sprachen und Themen, die die gesellschaftliche Praxis prägen und Aneignungen dem kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft einschreiben können, fehlen beispielsweise im Panorama. Alle verschiedenen Akteur.innen nehmen (teilweise in mehreren Funktionen) am Sprachendiskurs teil und bringen dabei je eigene Zwecke, Überzeugungen und Handlungsmuster in die Diskussion ein. Das betrifft konstruktive Beiträge zur Debatte ebenso wie den Umstand, dass eben zumeist über die eigenen Anliegen oder aus der eigenen Perspektive gesprochen wird, nicht miteinander.
Komplexe Dynamik: Durcheinander verschiedener Prozesse
Sehen wir uns als nächstes die verschiedenen Prozesse an, die das Luxemburgische und Luxemburg als Gesellschaft betreffen. Diese laufen teilweise parallel, in Teilen auch gegeneinander, und schaffen damit die Voraussetzung dafür, dass sich die verschiedenen Akteur.innen in der Diskussion jeweils die Argumente herauspicken können, die ihren Zwecken am besten entsprechen. Sprachliche Dynamik ist eben selten eindeutig oder monokausal, sondern die Summe vieler einzelner Handlungen zu bestimmten Zwecken und darauf bezogener Deutungen.
Sprachlicher Ausbau: Die erste Gruppe von Prozessen betrifft verschiedene Maßnahmen und Phänomene des Sprachausbaus, die derzeit die Dynamik des Luxemburgischen prägen. Dazu gehören die Etablierung als Schriftsprache (vermittelt über die sozialen und digitalen Medien), die steigende Sprecher.innenzahl infolge der Ausweitung von Angebot und Nachfrage an Sprachkursen, die symbolische Aufwertung der Sprache auch in formellen Kontexten (wie etwa beim jüngst auch auf Luxemburgisch übersetzten Gesetzesprojekt zur Förderung der Sprache), aber auch die sprachpolitischen Maßnahmen (Gesetz, Orthographiekampagne, Sprachzentrum etc.) selbst. Insgesamt deuten alle diese Dinge auf einen strukturellen Ausbau und eine stabile gesellschaftliche Verankerung der Sprache.
Sozioökonomische Migration: Bedingt durch die relative wirtschaftliche Stärke und die attraktiven Arbeitsbedingungen erlebt Luxemburg ein stetiges Anwachsen des Anteils an Mitbürger.innen und Grenzpendler.innen ausländischer Herkunft. Dies bedingt zum Einen eine gesellschaftliche Dynamik, in der neue gesellschaftliche Gruppen die Praxis prägen (so werden etwa derzeit über 80 % der Jobs im Privatsektor von Nicht-Luxemburger.innen ausgeübt). Zum Anderen sind damit zwangsläufig Auswirkungen auf die Sprachensituation verbunden, da nicht jede.r neue Mitbürger.in willens oder (aus den verschiedensten Gründen) in der Lage ist, das Luxemburgische zu lernen, zumal mit der Präsenz anderer Sprachen in der Praxis einfache Anknüpfungspunkte bestehen. In der Summe führt dies sowohl zu einer wachsenden Präsenz von anderen Gruppen und Sprachen (als Luxemburgisch bzw. Luxemburger.innen) in der Öffentlichkeit – besonders das Französische und die Hauptstadt stehen dabei in der Kritik – und trägt durch die Migrationsdynamik zu einer sinkenden relativen Anzahl an Luxemburgisch-Sprecher.innen gemessen an der Gesamtbevölkerung bei (trotz steigender Sprecherzahlen).
Linguistic Landscape: Die sprachliche Landschaft (“linguistic landscape”), vor allem die verschiedenen Formen schriftlicher Äußerungen (auf Schildern, Plakaten, Stickern usw.), ist gekennzeichnet von zwei parallel laufenden Tendenzen: Zum Einen erfährt das Luxemburgische in den letzten Jahren eine deutliche Aufwertung im öffentlichen Raum. Sowohl öffentliche (Verwaltungen) wie auch kommerzielle (Unternehmen), private oder künstlerische Akteur.innen setzen bei der Kommunikation in der Öffentlichkeit verstärkt auf das Luxemburgische, sei es zu Werbezwecken, als Service gegenüber den Anwohnern, als Ausweitung der alltäglichen Praxis oder als künstlerischer Ausdruck. Zugleich nimmt, wie in vielen Ländern weltweit, der kulturelle Druck, und damit auch die öffentliche Präsenz, des Englischen weiter zu, was sich vielerorts, so auch in Luxemburg, in einer Zunahme englischsprachiger Beschriftungen zeigt, zumal angesichts der kulturellen Diversität Luxemburgs und seiner Rolle als Tourismusziel. Ein bezeichnendes Beispiel in diesem Zusammenhang wäre etwa die Umbenennung des städtischen Geschichtsmuseums in Lëtzebuerg City Museum, die beide Tendenzen in sich vereint. Aber auch das neue (ebenso aggressive wie umstrittene) Nation Branding der Regierung setzt auf internationale Anschlussfähigkeit (“Let’s make it happen”).
Angst vor Überfremdung: Ein weiterer Aspekt, der in der Diskussion nicht unterschätzt werden darf, besteht in dem Umstand, dass wir es bei der erhitzten Debatte über die Sprache gewissermaßen mit einem Stellvertreterdiskurs zu tun haben. Anders als in anderen Ländern (seien es Deutschland, Frankreich, Österreich, Polen oder die USA), wo eine erstarkende gesellschaftliche Unsicherheit angesichts einer komplexen und als nicht beherrschbar erlebten Lebenswelt in Angst vor kultureller Überfremdung umschlägt und sich politische und außerparlamentarische Mittel und Wege sucht, diese zu artikulieren, können wir den Diskurs über Status und Prestige des Luxemburgischen als Diskussion (über die Sprache als nationales Symbol und Identifikationsmittel) sehen, die anstelle einer anderen (der über die Angst vor kultureller Überfremdung) geführt wird. Das erklärt zum Einen, warum vergleichbare politische Bewegungen in Luxemburg relativ schwach sind (zudem angesichts der Bevölkerungsstatistik und einer Wirtschaft, die von der Lebensleistung der Arbeitsmigrant.innen nachhaltig profitiert), darüber hinaus macht es aber auch nachvollziehbar, warum diese Debatte so viele Leute so stark emotionalisiert.
Sprache und Identität: Sprache nämlich, und damit kommen wir zu einem weiteren Aspekt, der grundlegend für alle Debatten über Status und Prestige von Sprachen ist, ist (zwangsläufig) sehr eng mit dem Bild verbunden, das jede.r von uns sich von sich selbst macht. Durch und mit Sprache erfahren und gestalten wir die Lebenswelt, die uns umgibt, in der wir handeln, in der wir uns gegenüber anderen positionieren müssen. Unsere Muttersprache(n) nimmt (bzw. nehmen) in diesem Zusammenhang eine besondere Stellung ein, weil sie unser erstes, zumeist wichtigstes und auch am besten beherrschtes Kommunikationsmittel darstellt (darstellen). Auch deshalb nimmt die ständige Betonung von “eis Sprooch” (unsere Sprache) in der Diskussion kaum wunder. Wer schon einmal beim Arzt oder der Zahnärztin versucht hat, diffuse Beschwerden zu beschreiben, kennt dieses Gefühl genau: Wenn uns Dinge im Innersten betreffen (z.B. Schmerzen), wollen wir die Sprache benutzen, in der wir uns am sichersten fühlen, um sicherzustellen, dass wir verstanden werden. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass die Vitalität des Luxemburgischen viele Menschen im Land so direkt und emotional herausfordert, besonders angesichts einer Sprachpraxis, in der man leicht das Gefühl bekommen kann, das Luxemburgische sei von anderen Sprachen bedrängt und man selbst deshalb gezwungen, auf diese, häufig weniger sicher beherrschten Sprachen auszuweichen.
Sprachwandel und Normen: Ein weiterer Prozess betrifft die generelle Veränderlichkeit von Sprache, die bei einigen Sprecher.innen Sorgen über den Zustand der Sprache auslöst. Viele Menschen wünschen sich eine verbindliche, möglichst stabile Grundlage für die Sprachpraxis, die man “Norm” oder “richtiges Luxemburgisch” nennen könnte und die in Grammatiken, Wörterbüchern und Rechtschreibregeln festgelegt ist. Veränderungen in der Sprache dagegen stehen viele Menschen skeptisch gegenüber, seien sie durch Sprachkontakt (mit dem Englischen, Deutschen, Französischen), jugendsprachliche Innovationen, einfachen sprachlichen Wandel (z.B. Verschwinden dialektaler Ausdrücke zugunsten überregional verständlicher) oder individuelle Mehrsprachigkeit (z.B. Interferenzen beim Zweitspracherwerb) bedingt. Interessant an diesen Normkonzepten ist dabei, dass sie sich nicht nur von Person zu Person unterscheiden (was die Eine richtig findet, ist dem Anderen ein Graus), sondern häufig auch vergessen wird, dass Normen selbst veränderlich und das Produkt von Sprachwandelprozessen sind. Man nehme nur das Beispiel der ß-Schreibung im Deutschen, das seinerzeit für viel Unmut unter Sprecher.innen gesorgt hat. Auch tendieren Menschen dazu, den eigenen Sprachgebrauch für “richtiger” zu halten als den von anderen Gruppen (besonders die Jugendlichen kommen da häufig schlecht weg) und dabei ihre Eigenheiten und “Fehler” zu übersehen, ebenso wie den Umstand, dass Normen nie absolut sind, sondern Vereinbarungen darüber, was zum gegebenen Zeitpunkt in bestimmten Gruppen als “richtig” gelten soll.
Status vs. Prestige: Ein vielleicht letzter Aspekt betrifft die verschiedenen Arten, auf die die verschiedenen Sprachen im Land in der Praxis repräsentiert sind. Dies betrifft zum Einen den Status von Sprachen, also die Art und Weise, wie Sprachen praktisch gebraucht, institutionell verankert und symbolisch aufgeladen werden. Zum Anderen betrifft es das Prestige von Sprachen, also die Frage, wie die verschiedenen Akteur.innen den Status von Sprachen wahrnehmen und bewerten. Nun zeigt sich in Luxemburg, dass es für einige Sprachen, besonders für das Luxemburgische, Französische und Englische, starke Diskrepanzen zwischen Status und Prestige gibt, während dies für andere (z.B. Deutsch und Portugiesisch) nicht der Fall ist. Beispiel Französisch: Während sein Status vor allem aus seiner institutionellen Verankerung und praktischen Bedeutung im Alltag entsteht, steht für sein Prestige eher seine institutionelle und symbolische Aufladung als Kultur- und Verwaltungssprache im Vordergrund. Beispiel Luxemburgisch: Während der Status des Luxemburgischen vor allem durch praktischen Gebrauch bestimmt wird, bezieht es sein Prestige größtenteils aus seiner symbolischen Aufladung als nationales Identifikationsmittel. Aus diesen Diskrepanzen, besonders für das Französische und Luxemburgische, entsteht, wenn man die gesamtgesellschaftliche Entwicklung hinzunimmt, eine besondere Dynamik, in der die Sprachen sowohl um ihren Status als auch ihr Prestige konkurrieren.1
Diese Skizzen unterschiedlicher Prozesse sind keineswegs vollständig, beispielsweise habe ich die Erwerbsbedingungen und schulische Vermittlung der Sprachen ausgeklammert, obwohl auch um die Frage der Alphabetisierung (auf Deutsch) und die mangelnde Präsenz des Luxemburgischen in den schulischen Curricula erhitzte Debatten geführt werden. Dennoch vermitteln sie einen guten Eindruck davon, warum die Diskussion über die Sprache(n) in Luxemburg so verfahren scheint, vor allem wenn man hinzudenkt, dass sich die verschiedenen Akteur.innen nur jeweils ausgewählte Argumente und Fakten für ihre Argumentation herauspicken, andere dagegen gern ignorieren.
Komplexe Deutungslage: Nebeneinander verschiedener Perspektiven
Zusätzlich zu den verschiedenen Akteur.innen und beschriebenen Prozessen müssen wir einen Blick auf die Verbindung zwischen Akteur.in und Prozess werfen, die vieles von dem bedingt und zugleich gestaltet, was im vorigen Abschnitt diskutiert wurde. Es geht um die verschiedenen Perspektiven auf die Sprachensituation und das Luxemburgische, die sich zwischen den verschiedenen Akteur.innen maßgeblich unterscheiden (können). Angesichts der Vielfalt der möglichen Perspektiven ist auch die folgende Passage eher beispielhaft als vollständig, dennoch berührt sie wichtige Positionen im derzeitigen Diskurs.
Beginnen wir auf der individuellen Ebene der persönlichen Erfahrung. Diese kann je nach eigener Situation zu sehr unterschiedlichen Deutungen führen. So berichten etwa viele Luxemburger.innen, dass sich “im Vergleich zu früher” die Lage in Luxemburg stark gewandelt habe und man im Alltag “kaum noch Luxemburgisch” sprechen könne. Man kann diese Erfahrung natürlich sehr einfach mit der Bevölkerungsdynamik in Verbindung bringen, die tatsächlich für viele Sprecher.innen im Alltag bedeutet, im Supermarkt, im Restaurant oder beim Bäcker nicht Luxemburgisch, sondern eher Französisch zu sprechen (Dass kaum ein.e Luxemburger.in bereit scheint, diese Berufe selbst auszuüben, steht auf einem anderen Blatt.). Darüber hinaus jedoch lässt sich aus dieser Herausforderung für die Bewältigung des Alltags ein weiteres, handlungstheoretisches Motiv lesen, das entscheidend zum Entstehen negativer Deutungen beitragen könnte. Wie schon im Beispiel des Gespräches mit dem Arzt trägt auch die Bestellung beim Bäcker in einer Fremdsprache die Gefahr des Scheiterns, mindestens aber des Gesichtsverlusts, in sich, wenn man etwa für bestimmte Dinge nicht das richtige Wort, die passende Wendung weiß. Verbunden mit dem Gefühl der Veränderung im Vergleich zu früher und dem Eindruck, im Heimatland nicht so sprechen zu können, wie man es am liebsten möchte, kann das schnell zu negativen Urteilen über solche Situationen und die daran beteiligten Sprecher.innen führen.
Dem gegenüber stehen beispielsweise die Erfahrungen von Menschen, die aus den verschiedensten Gründen nach Luxemburg ziehen, um hier zu leben, zu arbeiten und in vielen Fällen auch die Sprache zu lernen. Für diese Menschen, und davon scheint es derzeit immer mehr zu geben, bedeutet der Erwerb des Luxemburgischen die Teilnahme an, gewissermaßen auch das Ankommen in der Zielgesellschaft, zumal die Beherrschung der Sprache ja eine Voraussetzung für den Erwerb der luxemburgischen Nationalität darstellt. So sehr sich aber viele Luxemburger.innen freuen, wenn Zugezogene sich auf Luxemburgisch äußern, so sehr wird der Spracherwerb von Seiten der Luxemburger.innen durch das mitunter sofortige, häufig sogar unbemerkte Wechseln in andere Sprachen, die dem Gegenüber leichter fallen könnten, erschwert. Auch dies kann zu negativen Urteilen über Situationen führen, weil Luxemburger.innen, und sei es unbeabsichtigt, Sprachlerner.innen signalisieren, dass ihre Sprachkenntnisse für die Praxis als nicht ausreichend empfunden werden.
Überträgt man diese Einzelbeispiele auf die gesellschaftliche Praxis als Ganzes, so lässt sich leicht nachvollziehen, warum in Luxemburg so viele verschiedene Deutungen derselben Praxis nebeneinander – teilweise auch gegeneinander – bestehen und geäußert werden. Gerade das Zusammenspiel von eigenem Handeln, der öffentlichen Präsenz, von Status und Prestige der verschiedenen Sprachen mit sozialen, ökonomischen und politischen Faktoren bedingt eine Vielfalt unterschiedlicher Erfahrungen und darauf bezogener Urteile. Das ist prinzipiell nicht schlimm und in einer hochgradig individualisierten modernen Lebenswelt sogar gewissermaßen zwangsläufig; in einer offenen Gesellschaft ist das sogar wünschenswert. Nur muss eine Gesellschaft eben auch Mittel und Wege schaffen (und nutzen), die einen Ab- und Ausgleich zwischen diesen verschiedenen Deutungen der Praxis ermöglichen.
Solche Möglichkeiten zum Austausch setzen – neben einer allseitigen (und aufrichtigen) Bereitschaft – das Vorhandensein von Institutionen und Infrastrukturen voraus, die Austausch ermöglichen und fördern, seien es politische Konzepte (etwa zu Sprachenförderung und -erwerb), wissenschaftliche Analysen (über sprachliche Entwicklungen oder – wie diese hier – den Diskurs als solchen), ökonomische Anreize (Sprachprofile in Stellenausschreibungen, mehrsprachige Geschäftspraxis) oder auch künstlerische Aneignungen (z.B. mehrsprachiges Theater, Lesebühnen mit Texten in unterschiedlichen Sprachen). All das ist in Luxemburg gegeben, und dennoch scheint derzeit keine Verständigung möglich. Woran liegt das?
Eine Hoffnung: Miteinander verschiedener Stimmen und Meinungen
Und damit komme ich, nachdem die wichtigsten Figuren, Prozesse und Perspektiven des Diskurses skizziert und zueinander in Bezug gestellt sind, zum angekündigten Fazit, das eher einem Aufruf als einer Lösung der verfahrenen Diskurslage gleichkommt, und dabei ebenso banal wie einleuchtend die Hoffnung beschreibt, die verschiedenen Akteur.innen möchten statt nur gegen- oder nebeneinander vielleicht einmal miteinander sprechen, in gleichzeitiger Anerkennung und kritischer Aufnahme der jeweils anderen Positionen. Grundsätzlich bestehen dabei alle angesprochenen Akteur.innengruppen mit gleichem Recht (aber auf unterschiedlicher Grundlage!) auf ihren jeweiligen Haltungen, hinter denen je eigene Motive und Zwecke stehen, teils offen (wie bei der Nee 2015/Wee 2015-Gruppierung), teils verdeckt (wie bei der Sprachenpolitik der Regierung). Und ebenso haben auch alle Deutungen und Perspektivierungen der verschiedenen skizzierten Prozesse ihre Berechtigung im Diskurs. Die Frage, die hier zu stellen wäre, bezieht sich also weniger auf die Berechtigung der Positionen im Diskurs per se, als vielmehr auf den Beitrag der jeweiligen Position für dessen konstruktive Weiterentwicklung.
Ein wichtiger Schritt zu einer Klärung der Lage bestände also darin, die Positionen der jeweils anderen Seite zur Kenntnis zu nehmen und – noch wichtiger – anzuerkennen, nicht allein als Anlass, wieder einmal so lange die eigene Meinung in den Diskursäther zu posaunen, bis niemand mehr widerspricht, sondern als eine Stimme unter vielen möglichen. Denn (auch wenn dieses Bild ein wenig abgenutzt scheint) erst die (koordinierte) Summe der Einzelstimmen ergibt einen Klang, und nicht jeder kann (und muss) die erste Geige im Orchester spielen, wenn gleichzeitig alle Einzelstimmen Gehör finden sollen.2
Auf dem Weg dahin sind verschiedene Hürden aus dem Weg zu räumen: So hört niemand es gern, wenn er oder sie von Anderen in Frage gestellt, bevormundet oder in seinen Sorgen ignoriert wird, und dennoch müssen wir alle zusammen die Vielfalt der Meinungen, der Perspektiven und auch Expertisen aushalten und anerkennen lernen. Nicht jede.r, die oder der Sprecher.in einer Sprache ist und im Alltag Erfahrungen macht, die ihn oder sie bewegen, ist zugleich Expert.in für die Entwicklung einer Sprache als Ganzes und kann sich deshalb qualifiziert etwa zur Vitalität des Luxemburgischen aus wissenschaftlicher Perspektive äußern oder Leitlinien für die Schulpolitik entwickeln.3 Ebenso behält nicht jede.r Wissenschaftler.in oder Politiker.in im Vollzug der jeweiligen spezialisierten Praxis immer die alltäglichen Erfahrungen und Sorgen der Bevölkerung im Blick.
Ein wenig scheint es, und das könnte in besonderer Weise für die Luxemburger.innen mit ihrer sprichwörtlichen “Faust in der Hosentasche” gelten, als hätten wir ein Stück weit verlernt, uns offen aber anständig, also kritisch aber in Anerkennung der Gleichwertigkeit des Gegenübers, zu streiten, auch vielleicht weil es in der digitalen Welt so viel einfacher geworden ist, sich mit Akteur.innen und Deutungen zu umgeben, die der eigenen Meinung entsprechen. Dabei wäre genau das möglicherweise Voraussetzung für eine Klärung der Diskurslage zum Luxemburgischen: Das Andere aushalten ohne es auszublenden, es als Anlass anerkennen, die eigenen Position zu hinterfragen und damit zu bereichern anstatt sich persönlich angegriffen zu fühlen, sich bedacht äußern, ohne alles andere übertönen zu wollen. Ich hab ja gesagt, es ist eher eine Hoffnung…
Insgesamt deutet sich im Diskurs über das Luxemburgische aber vor allem die größte Aufgabe und Herausforderung moderner und offener Gesellschaften an, nämlich das Ausbalancieren von individueller und kollektiver Selbstbehauptung in der Praxis. Diese Balance zu meistern, und dabei das Luxemburgische als “unsere” gemeinsame Integrationssprache zu stärken, das wäre doch mal was, worauf sich mit Recht stolz sein ließe, viel mehr als auf die eigenen Voreingenommenheiten, die derzeit die Kommentarbereiche von Zeitungen und sozialen Medien füllen.
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Ungefähr das steht hinter der vielfach diskutierten (wenngleich etwas kurzsichtigen) Idee des “Sprachenmarkts” von Bourdieu. ↩︎
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In diesem Bild wird natürlich unterschlagen, dass die allermeisten Orchester ab einer bestimmten Größe über Steuerungsorgane, also etwa Dirigenten verfügen, die Einsätze, Stimmen und Dynamiken signalisieren. Wer diese Rolle aber in einem Sprachendiskurs spielen soll, darüber ließe sich wieder – und vermutlich ausufernd – streiten. ↩︎
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Darin besteht, etwa im Unterschied zur Physik, Medizin oder Bildhauerei, eines der Grundprobleme von Diskursen über Sprache: Sprache ist (vielleicht neben Wetter und Fußball) das einzige Thema, bei dem es mehr Experten als Phänomene gibt, wo jede.r meint, weil er oder sie täglich spricht und über aus dem Alltag erworbenes Erfahrungswissen verfügt, auch etwas Hilfreiches oder Substanzielles zu Diskussionen beitragen zu können. ↩︎
Letzte Aktualisierung: 10.04.2021