Zwei Dinge lassen sich derzeit im Zusammenhang mit der Sprachendiskussion in Luxemburg feststellen: Erstens erleben wir die erwartbare Zunahme sprachbezogener Themen in der Presse ebenso wie sprachenpolitischer Positionierungen bei den Parteien. Immerhin steht der Wahlkampf bevor, und spätestens seit der Verkündung einer Zusammenarbeit zwischen adr und Nee 2015/Wee 2050 zeichnet sich ab, dass die Sprachenfrage eines der Leitmotive für den Sound der nächsten Monate werden könnte. Zugleich erleben wir zweitens eine strukturelle Zuspitzung des Diskurses auf bestimmte Personen (z.B. Fred Keup vs. Claude Meisch), Positionen (z.B. Luxemburgisch fördern vs. Mehrsprachigkeit ausbauen), Argumente (z.B. Luxemburgisch ist bedroht vs. Mehrsprachigkeit ist praktisch erforderlich) und Motive (z.B. demographische Entwicklung aufhalten vs. wirtschaftliche Entwicklung fördern). Auffällig in diesem Zusammenhang ist neben der Zuspitzung des Diskurses aber vor allem die Herausbildung bestimmter Topoi, also von Gemeinplätzen und standardisierten Sprachbildern, die zur Illustration des Problems herangezogen werden.

Dabei werden vor allem zwei Alltagssituationen immer wieder bemüht, um mögliche Konfliktpunkte der Sprachensituation zu beschreiben: der Einkauf in der Bäckerei und der Termin im Krankenhaus. Warum sind es ausgerechnet diese beiden Situationen, die sich derzeit in der Diskussion verselbständigen, immer wieder aufgegriffen werden und die deshalb in keinem Beitrag zur Sprachenfrage fehlen? Egal ob es den Auftakt des Vorwahlkampfes in einer RTL-Diskussionsrunde zwischen Politiker.innen betrifft, eine Reportage über Bäckereien in Luxemburg-Stadt auf der jüngst gestarteten Plattform reporter.lu oder die Beiträge von Besucher.innen der Luxemburgisch-Diskussionsabende des Erziehungsministeriums (sproocheronn.lu): Immer werden genau diese beiden Situationen als Beweise für die Probleme mit dem Luxemburgischen und der Mehrsprachigkeit im Alltag angeführt. Und das scheinbar unabhängig von der Frage, ob sie im Alltag tatsächlich häufig zu problematischen Situationen führen. Ein Selbsttest in Luxemburg-Stadt zeigt, dass einem hier, in der Bäckerei wie in der Sprechstunde, die ganze Bandbreite sprachlicher Erfahrungen begegnet, vom erzwungenen Sprachwechsel à la “En français s.v.p.” über eine beidseitige Annäherung an eine gemeinsame Kommunikationsbasis unter Zuhilfenahme mehrerer Sprachen bis hin zum ganz auf Luxemburgisch geführten Gespräch (auch unter Nicht-Muttersprachler.innen). In Bezug auf die alltägliche Praxis unterscheiden sich diese beiden Situationen also kaum von anderen, in denen zwischen unterschiedlichen Sprachkenntnissen und Bedürfnissen vermittelt werden muss.

Typen von Alltagshandlungen

Warum also, lautet die Frage, wird im Diskurs vor allem auf Brot (bzw. Croissants) und Krankheiten Bezug genommen, nicht aber z.B. auf den Besuch beim Friseur oder im Restaurant, bei dem ja vergleichbare verbale Friktionen zu erwarten wären? Die Suche nach einer Antwort führt mich – mal wieder – auf das Feld der Handlungstheorie. Wie ich in meiner Analyse des Sprachendiskurses schon ausgeführt habe, bergen beide Situationen (aus handlungstheoretischer Sicht) die Möglichkeit des Scheiterns oder Misslingens. Am Beispiel der Bäckerei würde ein Misslingen beispielsweise bedeuten, dass ich nicht in der Lage bin, meine Bestellung auszuführen, z.B. weil mir das passende Vokabular auf Französisch fehlt. Scheitern würde demgegenüber bedeuten, dass der von mir verfolgte Zweck Brot kaufen nicht erreicht wird. Hinzu kommt die Möglichkeit des Gesichtsverlusts, also einer durch das Misslingen oder Scheitern der Handlung ausgelösten Bloßstellung vor meinem Gegenüber. In der Praxis finden wir natürlich die verschiedensten Formen dieses Grundmusters, weil Menschen je unterschiedliche sprachliche Fertigkeiten, Einstellungen und auch Schamgrenzen haben.

Wenn wir die beiden Situationen Bäckerei und Arztgespräch miteinander vergleichen, so lassen sich leicht Gemeinsamkeiten und Unterscheide zwischen ihnen feststellen: Beide Handlungen sind Alltagssituationen, die vielen Menschen häufig begegnen, zudem sind beide in der Praxis regelmäßige Berührungspunkte zwischen Wohnbevölkerung und Frontaliers ebenso wie zwischen Luxemburger.innen und Zugezogenen. Dennoch unterscheiden sie sich in Bezug auf ihren Routinisierungsgrad (wie häufig kommen sie vor?), ihre kommunikativen Anforderungen (worüber und wie viel muss gesprochen werden?) und das Maß an Involviertheit (wie viel Aufmerksamkeit und Emotion werden investiert?).

Nehmen wir zunächst das Beispiel Brot kaufen in der Bäckerei: Es handelt sich hier um eine Routinehandlung, also etwas, das viele Menschen regelmäßig tun, häufig als Teil des Wochenendeinkaufs oder auf dem Weg zur Arbeit. Dazu gehört, dass man in eine solche Situation kaum Aufmerksamkeit oder gar Emotion investiert, weil sie eingebettet ist in das, was wir darüber hinaus oder eigentlich noch tun wollen. Zudem sind die kommunikativen Anforderungen an die Situation vergleichsweise niedrig: Neben Grußformeln und einem Preis können lediglich die Bezeichnungen für Produkte Hürden im Gespräch darstellen, und selbst die lassen sich notfalls durch einen Fingerzeig überbrücken. Trotzdem ist die Gefahr praktischer Probleme in dieser Situation relativ hoch, gerade weil sie eine einfache Routinehandlung darstellt: Wer in dieser scheitert oder wem die Bestellung misslingt, läuft Gefahr, sich vor den Umstehenden zu blamieren. Und auch für diejenigen, die ohne Probleme in die benötigte Sprache wechseln können, bedeutet der Wechsel ein Mehr an Involviertheit gegenüber der sonstigen Routine. Häufen sich solche Vorkommnisse, entstehen aus Erfahrungen leicht negative Urteile, die sich zu Einstellungen verfestigen können.

Der Besuch beim Arzt oder der Ärztin hingegen stellt für die meisten Menschen keine Routinehandlung im klassischen Sinn dar; eher könnte man sie als Ausnahmehandlung beschreiben. Auf diese wird zudem in der Regel viel Aufmerksamkeit verwandt, weil man als Patient.in “gehört”, also in seinen Beschwerden verstanden werden will. Auch sind solche Situationen in der Regel emotional aufgeladen, weil Beschwerden und Schmerzen, besonders wenn sie unklarer Herkunft sind, Menschen verunsichern oder ängstigen und uns dabei allein durch ihre leibliche Qualität sehr nah gehen. Damit einher gehen für diese Situation hohe kommunikative Anforderungen: Um dem Arzt oder der Ärztin die eigenen Beschwerden verständlich zu machen, braucht es detaillierte Beschreibungen, für die viele Menschen auf eine Sprache zurückgreifen möchten, in der sie sich ausreichend sicher fühlen, um nicht Gefahr zu laufen, missverstanden (und vielleicht sogar falsch behandelt) zu werden. Das Risiko des Misslingens und/oder Scheiterns des Gesprächs ist in dieser Situation also hoch, allerdings steht dabei weniger das Motiv des möglichen Gesichtsverlusts im Vordergrund als die Sorge um Anerkennung (und Entlastung) von Beschwerden.

Proto-Situationen und ihre Folgen

Obwohl beide Situationen, Bäckerei und Klinik, also Alltagshandlungen darstellen, unterscheiden sie sich maßgeblich in Bezug auf die Bedingungen, unter denen sie stattfinden: auf der einen Seite die Routinehandlung mit geringer Involviertheit und niedrigen kommunikativen Anforderungen, auf der anderen Seite die Ausnahmehandlung mit hoher Involviertheit und ebensolchen kommunikativen Anforderungen. Aus handlungstheoretischer Sicht bilden die beiden Situationen also gewissermaßen die Pole des Spektrums von Alltagshandlungen ab, wie sie vielen Menschen in der Öffentlichkeit begegnen. Weil sie sich so sehr voneinander unterscheiden und dabei je gegensätzliche Ausprägungen von Eigenschaften aufweisen, können wir sie auch als polare Proto-Situationen beschreiben, zwischen denen sich alle anderen Typen von Alltagshandlungen ansiedeln lassen. Deshalb verwundert es auch nicht, dass es ausgerechnet diese beiden Handlungenstypen sind, auf die man sich in der Diskussion immer wieder beruft.

Dass sich die beiden Topoi Bäckerei und Klinik allerdings im luxemburgischen Sprachendiskurs gerade verselbständigen – für beide steht übrigens stellvertretend das häufig zitierte “En français s.v.p.” –, hat allerdings nicht allein mit ihrer Qualität als Proto-Situationen zu tun. Zu ihrer Verbreitung und Verfestigung trägt bei, dass die luxemburgische Öffentlichkeit recht übersichtlich ist, viele Teilnehmer.innen am Diskurs also auf geteilte Ressourcen (z.B. Medien) zurückgreifen. Ebenso wie beispielsweise Gerüchte können sich auf diese Weise auch prototypische Beispiele für Alltagssituationen im Gespräch schnell ausbreiten und zu diskursiven Topoi entwickeln, einerseits weil viele Menschen vergleichbare Erfahrungen teilen, andererseits weil sie auf passende Weise das ganze Spektrum von Alltagshandlungen veranschaulichen.

Man darf also gespannt sein, ob und wie häufig wir diese beiden Beispiele in den nächsten Wochen und Monaten noch zu hören bekommen werden, um zu illustrieren, dass und warum Luxemburgisch in Gefahr sei oder die Mehrsprachigkeit des Landes ein praktisches Problem. Wünschenswert wäre allerdings, dass im Zusammenhang mit diesen Topoi auch einmal über das eigentliche Grundproblem der Alltagshandlung Brot kaufen gesprochen würde, nämlich die zumeist eher bescheidene Qualität des hiesigen Brotes, egal in welcher Sprache.

  • | 2018-03-18 | Edit: Croissants hinzugefügt (als Beispiel für strittige Backwaren)